Mittwoch, 15. Juni 2022

Historische Grounds #08 - Millerntor-Stadion in Hamburg

Das Millerntor-Stadion ist Kult. Auf dem Heiligengeistfeld im Hamburger Stadtteil St. Pauli steht eines der legendärsten deutschen Fußballstadien. Trotz seiner vergleichbaren noch jungen Geschichte ist das 1963 eröffnete Stadion ein Inbegriff für Fußballkultur. Hier entstand in den 1980er Jahren eine alternative Fanszene, welche den FC St. Pauli und das Millerntor weit über Hamburgs Grenzen hinaus bekannt machte. Auch wenn das Stadion zwischen 2006 und 2015 rundum erneuert und modernisiert wurde, grenzt sich das Millerntor-Stadion nach wie vor von anderen Spielstätten der 1. und 2. Bundesliga deutlich ab.
Schon seit seiner Gründung am 15. Mai 1910 ist der FC St. Pauli auf dem Heiligengeistfeld beheimatet. Erste Fußballplätze gab es hier bereits lange vor Gründung des Hamburger Stadtteil Clubs. Ab 1895 wurden hier regelmäßig Punktspiele des Hamburger Fußballbund ausgetragen. Der FC Viktoria 1895 war in der Spielzeit 1900/01 sogar fest auf dem Heiligengeistfeld beheimatet. Auch der FC St. Pauli fand hier seine Heimat und entwickelte sich schnell zu einem Spitzenteam im Hamburger Fußball. Der ursprüngliche Platz auf dem Heiligengeistfeld wurde im zweiten Weltkrieg komplett zerstört, schon 1946 konnte man auch Dank tatkräftiger Mithilfe von Mitgliedern und Fans eine neue Spielstätte an der Ecke Glacischaussee / Budapester Straße eröffnen. Heute befindet sich an diesem Standort der Eingang zum U-Bahnhof St. Pauli. Das neu gebaute Stadion wurde am 17. November 1946 vom FC St. Pauli mit einem 1:0 Sieg gegen Schalke 04 eröffnet. Die Existenz der Spielstätte war auf nicht einmal 15 Jahre begrenzt. 1961 musste das Stadion zu Gunsten der 1963 stattfindenden Internationalen Gartenbauausstellung weichen. Letzte Highlights des alten Pauli Stadions waren Spiele im Jahr 1960 anlässlich des 50-jährigen Vereinsjubiläums gegen die Blackburn Rovers und Eintracht Frankfurt, welche der FC St. Pauli beide mit 3:2 gewinnen konnte.
Bereits im Jahr 1960 begann der Bau des neuen St. Pauli Stadions an der Stelle wo das Millerntor-Stadion noch heute steht. Der Neubau wurde zum Politikum, gab es doch Diskussionen über die mögliche Installation einer Flutlichtanlage oder einer angedachten Kapazität für 50.000 Zuschauer. Eine Flutlichtanlage in einem Stadion wäre in den frühen 1960er Jahren ein Novum in Hamburg gewesen. Schließlich baute man das erste Hamburger Flutlicht doch im Volksparkstadion des HSV, welcher sich für den Europapokal 1960/61 qualifiziert hatte, die Anlage wurde aber nicht rechtzeitig fertig, wodurch der HSV seine internationalen Auftritte bei Tageslicht absolvieren musste. Bis es Flutlicht auch auf dem Heiligengeistfeld geben sollte, verstrichen noch viele Jahre. Erst während der Bundesliga Saison 1988/89 erstrahlte das Millerntor-Stadion erstmals im Scheinwerferlicht. Auch die Idee der Zuschauerkapazität von 50.000 konnte nicht umgesetzt werden, stattdessen plante man für 30.000 Zuschauer. Nach Fertigstellung wurde die offizielle Kapazität schließlich mit 28.500 Zuschauern angegeben, andere Quellen sprechen von nur 27.500 Plätzen. Das erste Spiel im neuen St. Pauli Stadion wurde Ende Juli 1961 ausgetragen, als der FC St. Pauli mit 4:7 gegen CDNA Sofia verlor. Es war nur ein kurzes Intermezzo, stellte sich doch schnell Baupfusch am neuen Stadion heraus. Das beauftragte Bauamt hatte vergessen eine Drainage in den Rasen einzubauen, was dazu führte, dass der Platz regelmäßig unter Wasser stand und nicht bespielbar war. Als sich St. Pauli Verteidiger Heinz Deininger am 4. Mai 1962 in einem Spiel gegen den Berliner SV schwer verletzte, kam der Spielbetrieb auf dem Heiligengeistfeld zum erliegen. Deininger hatte sich auf Grund der schlechten Platzverhältnisse einen Speichenbruch zugezogen und fiel lange aus. Während die neue Anlage renoviert werden musste, wurde dem FC St. Pauli die unentgeltliche Nutzung des Volksparkstadions zugesagt. Eine Offerte, die der Verein allerdings ablehnte und stattdessen übergangsweise in den Stadien Hoheluft und Rothenbaum seine Heimspiele austrug. Die Bauphase am Millerntor dauerte rund eineinhalb Jahre, am 10. November 1963 kam es zur Wiedereröffnung bei einem Regionalligaspiel zwischen St. Pauli und dem VfL Wolfsburg. In den Geschichtsbüchern ist dies auch die offizielle Eröffnung des Millerntor-Stadion und der eigentliche Startpunkt der heutigen Kultstätte.
Namensgeber der Anlage ist das ehemalige Hamburger Stadttor "Millerntor", welches St. Pauli im 16. Jahrhundert von der damaligen Nachbarstadt Altona abgrenzte. Heute ist von der Anlage noch ein Wachhaus übrig, welches gegenüber dem Heiligengeistfeld auf dem Millerntorplatz am Anfang der Reeperbahn steht.
Die neu eröffnete Spielstätte bekam zwar den Namen "Millerntor-Stadion", es dauerte aber seine Zeit bis sich der Name durchsetzte. Auf Spielplakaten und Tickets war bis 1970 noch der alternative Name "St.-Pauli-Platz beim Millerntor" zu lesen. Die ersten Duftmarken auf dem neuen Vereinsgelände setzte der FC St. Pauli in der Saison 1965/66, in welcher man sich bis ins Viertelfinale des DFB Pokal vorspielte und auf Ligaebene nur aufgrund des schlechteren Torverhältnisses den Bundesliga Aufstieg verpasste. Der sportliche Erfolg zog auch die Zuschauermassen auf das Heiligengeistfeld. Für das DFB-Pokal Viertelfinale gegen den 1. FC Nürnberg wollten die Hamburger 26.000 Tickets verkaufen. Es gab aber Sicherheitsbedenken der Stadt, nach einem tödlichen Unfall bei einem Spiel im Februar 1966 in Kaiserslautern wurden die Sicherheitsstandards während Fußballspielen stärker hinterfragt und kontrolliert. Der damalige Hamburger Vizebürgermeister sprang dem Verein zur Seite und vermittelte, das Sportamt erlaubte daraufhin den Verkauf von 23.000 Tickets für den Pokalkracher am Millerntor. Später war dann in einigen Quellen von Zuschauerzahlen zwischen 26.000 und 27.000 zu lesen. Es ist nicht überliefert, ob die Schätzungen falsch waren oder der Verein Tickets unter der Hand verkauft hatte. Die Ticket-Diskussion wiederholte sich wenige Wochen später vor dem entscheidenden Bundesliga Aufstiegsspiel gegen Rot-Weiss Essen. Diesmal verständigten sich Verein und Senat darauf, dass 25.000 Karten verkauft werden durften. Aus der Ticket-Debatte entstand eine Diskussion über einen möglichen Ausbau des Millerntorstadions, die elitäre Lage auf dem Heiligengeistfeld mitten in der Stadt setzte aber Grenzen in Sachen Stadionerweiterung. Zumal laut Stadtsprecher auch der populäre Hamburger Dom, welcher seit 1893 auf dem Heiligengeistfeld stattfindet, nicht beeinträchtigt werden sollte. Heute sind das Stadion und das Volksfest fest miteinander verbunden und die Bilder legendär, wenn direkt neben dem Spielfeld das große Riesenrad seine Runden dreht. Die Diskussion über den Stadionausbau ebbte aber in den drauf folgenden Jahren schnell wieder ab, die St. Paulianer spielten in der Regionalliga Nord, ohne an die sportlichen Erfolge anknüpfen zu können. Das Zuschauerinteresse ging daraufhin deutlich zurück. Erst als der FC St. Pauli zur Saison 1977/78 erstmals in die erste Fußball Bundesliga aufstieg, geriet das Millerntor-Stadion wieder in den Fokus. Der Verein wollte seine Heimspiele ohne Frage auf dem Heiligengeistfeld austragen, doch nach dem 3:1 Heimsieg vor 20.000 Zuschauern am ersten Spieltag gegen Werder Bremen, bekam der FC St. Pauli einen Auflagenkatalog der Stadtverwaltung zugeschickt. Es wurde unter anderem die Begrenzung der Kapazität auf 18.000 gefordert und die Behebung zahlreicher Baumängel. Der FC St. Pauli musste daraufhin den Großteil seiner Heimspiele im ungeliebten Volksparkstadion des HSV austragen. Erst zum Saisonende konnte der Verein für wenige Spiele in seine eigentliche Heimat zurückkehren. Das Kuriose; bei den insgesamt fünf Spielen am Millerntor blieben die St. Paulianer ungeschlagen, trotzdem stiegen sie am Ende der Bundesliga Saison als Tabellenletzter ab. Auch in der Zuschauertabelle liegt der FC St. Pauli mit einem Schnitt von 9.711 abgeschlagen auf dem letzten Platz. Noch dicker kam es für den Verein ein Jahr später, als der DFB dem Team auf Grund von hohen Zahlungsrückständen die Profilizenz entzog. St. Pauli musste aus der 2. Bundesliga zwangsabsteigen und fand sich in der Spielzeit 1979/80 in der drittklassigen Oberliga Nord auf Amateur-Niveau wieder. Eine triste Epoche am Millerntor begann, zum ersten Oberliga Heimspiel gegen Olympia Wilhelmshaven verirrten sich 1.050 Zuschauer auf das Heiligengeistfeld.
Der FC St. Pauli war zu diesem Zeitpunkt ein Verein wie jeder andere, als man in der Saison 1984/85 in die zweite Bundesliga zurückkehren konnte, hatte dies keinen besonderen Effekt auf die Zuschauerzahlen. Kein einziges der 19 Heimspiele war ausverkauft und am Ende der Saison stand man auf einem Abstiegsplatz und fand sich erneut in der Oberliga wieder. Heute undenkbar, aber auch auf St. Pauli fanden sich damals, wie in allen Fußballstadien, schwarz weiß rote Reichsflaggen auf den Tribünen wieder. Einen Startpunkt der heute weltweit bekannten Sankt Pauli Fankultur lässt sich nicht exakt benennen. Während der Partie zwischen dem FC St. Pauli und dem ASC Schöppingen am 8. Juni 1986 im Rahmen der Aufstiegsrunde zur 2. Bundesliga, kam es direkt neben dem Stadion zu einem rechtswidrigen Polizeieinsatz, der als "Hamburger Kessel" bekannt wurde. Die Polizei hielt 861 Anti-Atomkraft-Demonstranten 13 Stunden lang fest, eine Aktion, die für einen großen Aufschrei in der Bevölkerung sorgte, ins Stadion am Millerntor wurde der Protest damals aber nicht getragen. Erst in der folgenden Saison, St. Pauli war wieder Teil der 2. Bundesliga, waren am Millerntor erstmals linksgesinnte politische Parolen zu hören und zu lesen. "Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg, nie wieder 3. Liga!" Berühmt ist heute der Punkrocker Doc Mabuse, der aus der Hausbesetzerszene in der Hamburger Hafenstraße kam. Er schwenkte in dieser Zweitligasaison 1986/87 erstmals die heute legendäre Totenkopfflagge auf der Gegengerade des Millerntor-Stadions, ein Symbol der Widerstandshaltung der Hausbesetzer. Heute ist der Totenkopf fest mit dem Verein verbunden und wird als erfolgreiches Merchandising-Motiv vermarktet. Für viele ist Doc Mabuse mit seiner Flagge der Startpunkt der neuen Fankultur am Millerntor. Der Zuschauerzuspruch nahm im Laufe der Saison enorm zu und am 30. Mai 1987 war das Millerntor-Stadion zum 35. Spieltag gegen Hannover 96 zum ersten mal seit 21 Jahren wieder ausverkauft. Ihren ersten Höhepunkt erreichte die neue St. Pauli Fanbewegung im Jahr 1989, der Fußball auf dem Heiligengeistfeld tobte. Die heutigen Kiezkicker waren wieder Teil der 1. Bundesliga und spielten so erfolgreich wie noch nie. Der Ticketverkauf boomt derartig, dass 1988 hinter den Stehtraversen der Gegengerade sogar eine zusätzliche Sitzplatztribüne errichtet wurde. Der damalige Präsident des FC St. Pauli Otto Paulick gibt daraufhin auf einer Pressekonferenz im Januar 1989 überschwänglich bekannt, das Millerntor-Stadion abreißen zu wollen und an selber Stelle ein überdimensionaler "Sport-Dome" mit 50.000 Plätzen, Kongressräumen und Einkaufszentren entstehen zu lassen. In der jungen Fanszene entsteht ein Sturm der Entrüstung, man befürchtet nicht nur den Verlust der gerade erst gefundenen Vereinsidentität, sondern auch steigende Mieten im Viertel. Im März 1989 kam es zu Deutschlands erstem organisierten Stimmungsboykott in einem Fußballstadion. Unter dem Motto "Schweigeprotest gegen den Sport Dome" blieb das Stadion im Heimspiel gegen den Karlsruher SC stumm. Es folgten weitere Aktionen in Form von Flugblättern und Transparenten und der Protest zeigte Erfolg, zwei Monate später nahm das Präsidium Abschied von seinen Plänen. Zu dieser Zeitepoche gab es im St. Pauli Museum eine Sonderausstellung mit dem Untertitel "Die zweite Geburt des FC St. Pauli!". Der Erfolg gegen den Bau den Sport-Dome beflügelte die St. Pauli Fans zu weiteren Aktionen. Im August 1989 verteilten Fans bei einem Heimspiel einen zweiseitigen offenen Brief gegen Rassismus und Diskriminierung, welcher von der kompletten Mannschaft unterschrieben wurde. Auch dies war eine Premiere, Antirassismus-Maßnahmen hatte es bis dahin im deutschen Profi-Fußball noch nicht gegeben und sollten erst viele Jahre später salonfähig werden. Ebenfalls zu dieser Zeit gründete sich mit dem "Millerntor Roar" das erste Deutsche Fanzine. Heute ist der Titel der Zeitschrift, welche 1993 eingestellt wurde, ein Inbegriff für die einzigartige Stimmung bei Heimspielen des FC St. Pauli.
Weitere Aktionen der Fanbewegung richteten sich auch gegen Werbepartner des Vereins, als in der Saison 1989/90 ein Freizeitpark ein Plüschtier durch das Stadion spazieren lies, stieß dies auf St. Pauli auf erheblichen Gegenwind. Bis heute ist der Verein einer der wenigen im Profifußball ohne offizielles Maskottchen. Im März 1991 musste ein Spiel gegen Hertha BSC Berlin aus Sicherheitsgründen ins Volksparkstadion verlegt werden und wurde daraufhin vom St. Pauli Fanblock boykottiert, stattdessen versammelten sie sich im heimischen Stadion am Millerntor und verfolgten die Radioreportage des Spiels von dort und unterstützten dabei ihren Verein aus der Ferne. Eine Protestaktion die damals ein überregionales Presseecho nach sich zog. Im Herbst des gleichen Jahres wurde auf Initiative der Fanszene die Stadionordnung geändert, in der fortan das Rufen von rechtsradikalen Parolen mit Hausverbot geahndet wurde. Zur Bekanntgabe trugen Fans zusammen mit dem damaligen Geschäftsführer Manfred Campe ein Banner mit der Aufschrift "Kein Fußbreit den Faschisten" über den Platz. Bei einem Heimspiel im Dezember 1992 gegen Hertha BSC Berlin blieb ein Teil der Gegengerade frei, um diese mit Transparenten gegen Rassismus auszustatten. In der Hertha Kurve waren zu diesem Zeitpunkt bekanntermaßen zahlreiche rechtsextreme Gewalttäter vertreten, weshalb die Demonstration der St. Pauli Fans gezielt bei diesem Spiel stattfand.
Für internationales Aufsehen sorgte die Absage des Fußball-Länderspiels zwischen Deutschland und England welches am 20. April 1994 im Hamburger Volkspark stattfinden sollte. Tags zuvor sollte nach Willen des DFB bereits ein Spiel der beiden Reservemannschaften am Millerntor ausgetragen werden. Die neuen Pauli Fanzines "Der Übersteiger" (Nachfolger des Millerntor-Roar, existiert bis heute) und "Unhaltbar!" (1999 eingestellt) machten gegen diese Spiele mobil, denn der 20. April ist der Geburtstag von Adolf Hitler und galt unter Rechtsextremen als Feiertag. Man wollte verhindern, dass Nazis sich die Spiele zum Anlass nehmen sich im Stadtgebiet auszutoben. Das B-Länderspiel wurde relativ schnell abgesagt, am Aufeinandertreffen der beiden A-Nationalmannschaften hielt der DFB aber zunächst fest. Weitere Aktionen der St.-Pauli-Fans, wie Flugblätter und Aktionstage brachten Ende Januar 1994 auch das Spiel im Volksparkstadion zur Absage. Der DFB hielt es daraufhin für eine gute Idee, das Spiel am selben Tag im Berliner Olympiastadion auszutragen, welches aber auf Grund der Olympischen Spiele 1936 noch mehr mit der Nazizeit verbunden war. Deutsche und englische Sicherheitsbehörden warnten mittlerweile von Plänen rechter Gruppen aus beiden Ländern. Der englische Fußballverband zog seine Mannschaft dann Anfang April vom Spiel zurück, nachdem Autonome einen Buttersäureangriff auf die Geschäftsstelle des Berliner Fußballverbandes verübt hatten. Das geplante Länderspiel fand nie statt, auch auf Grund des Einsatzes der St. Paulianer, welche bereits frühzeitig die Austragung in Hamburg verhindert hatten.
Zu einem weltweit einzigartigen Vorgang kam es auf Sankt Pauli in den Jahren 1997 und 1998. Was heute kaum noch bekannt ist, zwischen 1970 und 1998 war das Sankt Pauli Stadion nach dem ehemaligen Vereinspräsidenten Wilhelm Koch benannt. Autor René Martens wies in seinem 1997 veröffentlichten Buch "FC St. Pauli - You´ll never walk alone" auf die NSDAP Mitgliedschaft des ehemaligen Präsidenten hin, zu dem habe Koch 1933 ein jüdisches Handelsunternehmen übernommen. Auf der Jahreshauptversammlung 1997 zogen die Veröffentlichungen von Martens hohe Wellen und die Forderungen wurden laut, die heimische Spielstätte wieder in Millerntor-Stadion umzubenennen. Zunächst wurde ein neutraler Gutachter beauftragt, der die Aktivitäten Kochs in der Nazi-Zeit genauer erforschen sollte. Die Recherchen dauerten mehrere Monate, brachten abgesehen von dem Parteibeitritt keinerlei weitere politische Aktivitäten Kochs hervor. Auch die Übernahme der jüdischen Firma sei in beiderseitigem Einverständnis erfolgt und die Alteigentümer hätten auch nach dem Aufkauf ein enges freundschaftliches Verhältnis zu Koch gepflegt. Auf der Jahreshauptversammlung stellte die aktive Fanszene trotzdem den Antrag zur Umbenennung des Stadions, mit der Begründung, dass ein öffentliches Bauwerk nicht nach einem NSDAP Mitglied benannt sein darf und man könne die politische Ausrichtung des Vereins mit einer Stadion-Umbenennung weiter unterstreichen. Der Antrag wurde schließlich mit 133:77 Stimmen verabschiedet und das "Wilhelm-Koch-Stadion" war Geschichte. Seit der Saison 1999/2000 spielt der FC St. Pauli wieder im Millerntor-Stadion. Auf der Jahreshauptversammlung 2007 beschlossen die Mitglieder, dass der Stadionname nicht an Werbeträger oder Sponsoren veräußert werden darf. Eine "XY-Arena" wird es auf St. Pauli nie geben. Zum Zeitpunkt dieses Beschluss lief bereits der Umbau des Millerntor-Stadion zu seiner heutigen Form, dieser wurde zwischen den Jahren 2006 und 2015 schrittweise vollzogen. In den Jahren zuvor war der FC St. Pauli wieder in eine finanzielle Notlage geraten. Im Jahr 2002 wurde man nach einem Bundesliga Sieg gegen den FC Bayern noch zum selbsternannten "Weltpokalsiegerbesieger", wurde dann aber von der Bundesliga bis in die Regionalliga Nord durch gereicht. Um die Lizenz für die drittklassige Regionalliga zu erhalten, musste aber erst eine Finanzlücke von 1,9 Mio Euro geschlossen werden. Der St. Pauli Vorstand, angeführt von Corny Littmann, veräußerte das Jugendleistungszentrum des Vereins für 720.000 € an die Stadt Hamburg und rief die legendäre Retter-Kampagne ins Leben. Es wurden 140.000 "Retter" T-Shirts verkauft und Uli Hoeneß kam mit seinem FC Bayern München zum Benefizspiel ans Millerntor. Die Budget-Lücke wurde durch die Einnahmen geschlossen und der Zwangsabstieg in die Oberliga verhindert werden. Für die Regionalliga-Saison 2003/04 verkaufte der Verein unfassbare 11.700 Dauerkarten, was einen nie zuvor dagewesen und nie mehr erreichten Rekord darstellte. Die finanziellen Schwierigkeiten blieben bestehen; nachdem man die Rückkehr in die 2. Bundesliga klar verpasste, drohte ein erneuter Zwangsabstieg in die Oberliga, welcher diesmal durch den Verkauf von lebenslangen Dauerkarten verhindert werden konnte. Die Kiezkicker leisteten ihren Teil auf dem Platz und brachten dem Verein durch ein gutes Abschneiden im DFB Pokal 2005/06 finanzielle Entspannung. Die Siege gegen Burghausen, Bochum, Hertha BSC Berlin, Bremen und die Halbfinal-Niederlage gegen Bayern München gingen als "B-Serie" in die Fußball-Geschichte ein. Eine Saison später kehrte man unter Neu-Trainer Holger Stanislawski in die 2. Bundesliga zurück. Zu diesem Zeitpunkt war der Umbau des Millerntor-Stadions bereits gestartet, im Dezember 2006 wurde die alte Südtribüne abgerissen. Der Neubau konnte erst ein halbes Jahr später beginnen, da Verträge zur Finanzierung des Bauprojekts nicht ausreichend gedeckt waren. Durch die Verzögerung gingen dem Verein unnötig viele Einnahmen verloren, da der Spielbetrieb am Millerntor während des gesamten Umbaus aufrecht erhalten wurde. Die Stadionlücke am Standort der ehemaligen Südtribüne wurde von den Fans "Littmann Loch" getauft. Im November 2007 durften erstmals wieder Zuschauer die Stehplätze auf der neu eröffneten Südtribüne benutzen. Vollauslastung gab es aber erst ein halbes Jahr später, als die fertiggestellte Tribüne bei einem Freundschaftsspiel gegen die kubanische Nationalmannschaft offiziell eröffnet wurde. Die Backsteinfassade erinnert von außen an ein klassisches englisches Fußballstadion und hat dadurch in Deutschland seinen ganz eigenen Charme. Neben dem Fanshop und Event-Räumlichkeiten befinden sich in der Südtribüne auch die Büros der Geschäftsstelle des FC St. Pauli.
Im nächsten Umbauschritt wurde die Haupttribüne erneuert, welcher ursprünglich im Sommer 2008 starten sollte. Auf Grund fehlender Kredite verzögerte sich der Baubeginn um mehr als ein Jahr, erst im November 2009 wurde die alte Haupttribüne abgerissen. Eröffnet wurde die neue Haupttribüne mit Beginn der Saison 2010/11, historisch, denn die Kiezkicker waren wieder Teil der 1. Bundesliga. 10 Jahre nach der Fast-Insolvenz war St. Pauli wieder im Fußball-Oberhaus angekommen und das nun mehr neue Millerntor-Stadion sah wieder erstklassigen Fußball. Mit der Eröffnung der neu gebauten Haupttribüne erhöhte sich das Fassungsvermögen des Stadions auf 24.800 Plätze. Während der Bundesliga-Saison standen die Bauarbeiten still, nur die Ecke zwischen den beiden bereits fertigstellten Tribünen musste auf Grund einer DFL-Richtlinie noch geschlossen werden. Für die Eckbebauung hatte man eine grandiose Idee, statt diese mit weiteren Zuschauerplätzen auszubauen entstand hier der weltweit erste Kindergarten in einem Fußballstadion. Die Eröffnung der Kindertagesstätte war am 15. November 2010, heute werden in der "Kita Piraten-Nest" 100 Kinder betreut. Man entschloss sich bewusst gegen weitere Plätze für Zuschauer, da dies das Fassungsvermögen auf über 30.000 Plätze erhöht hätte und für den FC St. Pauli weitere auf dem Heiligengeistfeld nicht umsetzbare DFL Richtlinien zur Folge gehabt hätte, wie zum Beispiel den Bau einer Tiefgarage. In den beiden neu gebauten Tribünen befindet sich allerdings auch der VIP Bereich des Stadions, im Prinzip ein Widerspruch der Vereinsidentität. Aber wenn man im Kreise der Großen mithalten will, muss man eben kompromissbereit sein. Auf der Haupttribüne befinden sich 2.491 Business-Seats, zu dem gibt es über Süd- und Haupttribüne verteilt insgesamt 39 Séparées. In anderen Stadien würden diese vermutlich als Logen bezeichnet werden, es sind Räume mit Blick aufs Spielfeld, die von den Mietern individuell eingerichtet werden dürfen. Aktuell sind diese an große Sponsoren wie Congstar und Astra vermietet, aber auch an reiche Unternehmer aus Nah und Fern.
Am Ende der Saison 2010/11 stieg man nach nur einem Jahr wieder in die 2. Bundesliga ab und verlor zu dem den langjährigen Erfolgstrainer und Pauli-Legende Holger Stainslawski an die TSG Hoffenheim. Der Stadionumbau ging am Ende der folgenden Saison weiter als mit dem Abriss der Gegengerade begonnen wurde. Anfang 2013 wurde der Neubau eröffnet und das Millerntor hatte nun ein Fassungsvermögen von 29.063 Plätze. Die neue Gegengerade bietet dabei Platz für 13.000 Menschen, 3.000 davon sind Sitzplätze im oberen Bereich und der untere Teil der Tribüne besteht aus 10.000 Stehplätzen. Zur Erinnerung, auf den Stehplätzen der Gegengerade entstand in den 1980er Jahren die heute weltweit bekannte St. Pauli Fankultur.
Abgeschlossen wurde der jahrelang andauernde Umbau im Jahr 2014 mit dem Neubau der Nordtribüne. Auf Grund einer Partie gegen Borussia Dortmund in der zweiten DFB Pokal Runde, verschob man den Baubeginn noch einmal um wenige Woche, kurz danach verschwand aber auch die letzte alte Tribüne des Millerntor-Stadions. Die neue Nordtribüne wurde schließlich am ersten Spieltag der Zweitliga Saison 2015/16 eröffnet. Zu Gast war Arminia Bielefeld und das Millerntor selbstverständlich ausverkauft. Die neue Kapazität von 29.546 Plätzen wurde komplett ausgeschöpft und markierte gleichzeitig auch einen neuen Zuschauerrekord auf St. Pauli. Die Fans aus Bielefeld eröffneten auch den neuen Gästeblock auf der Nordtribüne, dieser kann je nach Gäste-Aufkommen in der Größe verstellt werden. Kommt beispielsweise aktuell der SV Sandhausen mit einer handvoll Fans ans Millerntor, können so weitere Plätze für St. Pauli Fans zur Verfügung gestellt werden.
"Welcome to hell!", das Millerntor-Stadion hat auch nach den Umbaumaßnahmen seinen ganz eigenen Flair und ist mit anderen Stadien der deutschen Profiteams nicht zu vergleichen. Vielen Auswärtsmannschaften wird das Fürchten gellehrt, wenn sie durch den Geisterbahn ähnlichen Spielertunnel ins Stadion einlaufen. Mit den Glockenschlägen von AC/DC´s Hells Bells wird seit Anfang 2000 der Fußballgottesdienst auf St. Pauli eröffnet. Bevor die legendäre Einlaufzeremonie beginnt, werden 10 Minuten vorher sämtliche Werbedurchsagen und Musikabspiellungen gestoppt. Stattdessen starten die St. Pauli Fans schon vor dem Anpfiff ihren ersten "Millerntor-Roar" und verwandeln das Stadion regelmäßig in einen Hexenkessel. Auswärtige Fans sehen im Millerntor direkt die Ideologie des Vereins, die Tribünen sind mit politischen Parolen versehen. Auf der Gegengerade steht unübersehbar "Kein Fußball den Faschisten", die Nordtribüne trägt den Slogan "Kein Mensch ist illegal". Für Pauli-Fans Identifikation, für andere Anlässe unverständlicherweise nur schwer vermittelbar. Als der DFB seine Nationalmannschaft im Millerntor-Stadion trainieren lies, mussten die Botschaften mit Banderolen überhangen werden. Man wollte nicht, dass es Fotos von deutschen Nationalspielern mit politischer Meinungsäußerung im Hintergrund gibt. Aber auch der Verein selber wählt sich seine Gäste bewusst aus, erst kürzlich lehnte man eine Anfrage von Teutonia Ottensen ab. Der Hamburger Pokalsieger wollte sein DFB Pokal Erstrundenspiel in der kommenden Saison 2022/23 gerne am Millerntor austragen. Sankt Pauli lehnte die Anfrage ab, da man RB Leipzig keine Bühne im heimischen Stadion geben möchte. Der Verein wie auch die Fanszene sehe das Modell von RB äußerst kritisch und unterstreicht mit dem Entschluss, dass das Millerntor-Stadion als Symbol für solidarischen und gerechteren Fußball steht. Bisher durfte nur der USC Paloma Hamburg als auswärtige Hamburger Mannschaft ein Heim-Pflichtspiel am Millerntor austragen. In der DFB-Pokalsaison 2002/03 empfing man auf dem Heiligengeistfeld in der ersten Runde den 1. FC Kaiserslautern.
Der FC Sankt Pauli ist heute selbst jedem Nicht-Fußball-Fan ein Begriff, das Millerntor-Stadion hat Kultstatus und wird diesen auf ewig tragen. Stadion und Verein polarisieren. In Sankt Pauli hat man es geschafft, seine Identität in Zeiten des Kommerz-Fußballs nicht zu verlieren. Hamburg ist Braun-Weiss!

Der FC Sankt Pauli ist im Herzen von Hamburg zu Hause
Auf dem Heiligengeistfeld unweit der Reeprbahn...
... steht das Millerntor-Stadion
Die Ursprungsversion des Stadions wurde 1963 eröffnet
Die Umkleideräume der Profi-Mannschaft
Die furchteinflößende Spielertunnel
Der St. Pauli Totenkopf ist am Millerntor nicht mehr
wegzudenken
Über dem Ausgang des Spielertunnels befindet sich der
weltweit erste Kindergarten in einem Fußballstadion
"Kein Fussball den Faschisten", die Gegengerade
"Voran Sankt Pauli", die Südtribüne
"Kein Mensch ist illegal", die Nordtribüne
Der größenverstellbare Gästeblock auf der Nordtribüne
Auf den Stehplätzen der Gegengerade entstand in den 1980er
die heute bekannte St. Pauli Fankultur
Über den Stehplätzen befinden sich heute noch Sitzpläte
Auf Pauli trinkt man Astra
Die Fassade der Südtribüne nach englischem Vorbild
Hamburg ist braun weiss!

Die Fotos entstanden im Rahmen der Millerntour, der FC St. Pauli Stadionführung, am 9. Mai 2022.

Dies war der achte Teil unserer Serie über historische Fußballstadien, zuvor blickten wie bereits auf das mittlerweile abgerissene Stadion am Hermann-Löns-Weg in Solingen, das Röntgen Stadion in Remscheid, auf das Jahnstadion in Mönchengladbach, die Westkampfbahn in Düren, das Grotenburg-Stadion in Krefeld, das Stadion Mittelwiese in Ruhla und zuletzt auf das Waldstadion am Erbsenberg in Kaiserslautern. Folgt mir bestenfalls auf Twitter und erfahrt dort sofort wenn ein neues Feature erscheint.

Quellen-Verzeichnis:
- "Niemand siegt am Millerntor. Die Geschichte des legendären St.-Pauli-Stadions" - René Martens - Verlag die Werkstatt - 2008
- "Das große Buch der deutschen Fußball-Stadien" - Werner Skrentny - Verlag die Werkstatt- 2009
- Ankekdoten aus der "Millerntour" - Stadionführung des FC St. Pauli